Für jeden Musicaldarsteller ist es so etwas wie der heilige Gral: einmal auf dem Broadway in New York oder dem West End in London zu glänzen. Wir alle träumen von diesem magischen Anruf, bei dem der Hauptdarsteller von Les Misérables oder Das Phantom der Oper plötzlich in Ohnmacht fällt und nur EINER einspringen kann – nämlich man selbst! …. seufz
Aber natürlich kommt so ein Anruf nicht einfach aus dem Himmel geflogen. Wie auch? Die kennen mich da nicht mal, und in London und New York gibt es Musicaldarsteller wie Sand am Meer. Das sollte sich ändern, dachte ich mir (nachdem ich mir im Jahr 2022 gleich viermal das Bein gebrochen habe). Ich nutze diese plötzliche extra Zeit und investiere in das neue Jahr.
Als ich das meinem Freund zum ersten Mal erzählte, starrte er mich mit Augen an, die größer waren als meine Beinschiene. Mit meinem gebrochenen Bein in der Luft und mindestens vier Farbenfrohe Schmerztabletten im Tuss muss ich nicht besonders überzeugend gewirkt haben. Aber er kannte schon diesen besonderen, irren Blick von mir und wusste: Mich zu bremsen wir schwierig.
„Vielleicht solltest du dich erstmal auf die Heilung deines Beins konzentrieren“, versuchte er verzweifelt. „Immerhin hat der Arzt mehrfach gesagt, dass da nicht mehr viel zu machen ist.“ „Ach Quatsch!“ erwiderte ich euphorisch. „Der Arzt hat doch keine Ahnung. Ich bin Tom der Belgier, und dank meiner Tanzausbildung kenne ich meinen Körper besser als der durchschnittliche 0815-Patient. Das wird schon klappen.“ – Bist du dir sicher? „ICH GEHE NACH LONDON!“ sagte ich mit einem riesigen Lächeln und viel zu weit aufgerissenen Augen. Ich sah in seinem Blick eine Mischung aus Stolz und Verzweiflung. Ja, bestätigte ich nochmal leise vor mich hin. „Ich gehe nach London.“
Zwischen Kine, noch zwei weiteren OP´s und dem erneuten Erlernen des Laufens, kritzelte ich meine wilden Ideen auf Papier und kontaktierte meine beiden einzigen Kontakte in England: Sven und Ian. Sven sollte das Stück richtig übersetzen, und Ian sollte die Musik komponieren. Denn ich dachte mir, wenn Ian hier seine Finger im Spiel hat, werde ich dort meinen Fuß leichter in die Tür kriegen. Eine durchgeknallte Idee, die ich wahrscheinlich meinen Schmerztabletten zu verdanken hatte.
Und plötzlich kam der Ball ins rollen. Die ersten Online-Meetings fanden auf meiner Couch statt, und drei Monate nach meiner letzten OP saß ich im Flugzeug nach London. Dort traf ich Owen, den Intendanten eines kleinen Theaters. Tatsächlich zeigte er Interesse an unserem Musical, und zwei Tage später war der Vertrag unterschrieben. Auch wenn ich immer noch nicht richtig laufen konnte, schwebte ich auf Wolken.
Es folgte noch ein Besuch von Ian in Erfurt, wo wir zusammen das Stück zusammenbastelten und lautstark die ersten Versuchen an Songs trällerten. Nach ein paar nächtlichen Jam-Sessions flog Ian wieder nach London und verabschiedete sich mit einem überzeugten: See you in November! Das klang alles so surreal, aber ich spürte, dass mein absurder Beinbruch-Plan tatsächlich Wirklichkeit werden würde.
Und jetzt sitze ich im Eurostar, rutsche unter dem Ärmelkanal durch mit zwei Koffern voller Kostüme, Requisiten und einem Haufen Vorfreude! LONDON, BABY! HERE I COME!